Ich hab mich - endlich - mal an das Thema der Casting-Direktoren gemacht: Wer sind sie? Wer arbeitet für wen? Und vor allem: Wie arbeiten sie? Und ich fühl mich eigentlich bestätigt in dem lang gehegten Verdacht, dass man die Fashion-Shows besser versteht, wenn man diese Zunft beachtet.
tfs hat gut vorgearbeitet. Stereo Flo hat für die Saison AW14 eine Liste vorgelegt, welche Casting-Directors für welche Show gearbeitet haben. Im letzten März haben dann anlabe32 und andere eine weitere Liste für AW15 mit CDs und Stylisten zusammengetragen. Und ein Posting von marqueemoongibt In dem einschlägigen thread Casting Directors: Who are they, what they do, News etc., einen Überblick über den Standardablauf der Arbeit von Casting Direktoren.
In Stichpunkten zusammengefasst sieht das so aus:
1.) Ein "precasting" mit Hunderten von Models, die von ihren Agenturen dorthin geschickt werden. Oft ohne Topmodels.
2.) Im Ergebnis haben sie Yes- No- und Maybe-Stapel von Compcards für meist mehrere Klienten.
3.) Damit werden die Kunden kontaktiert; in Zusammenarbeit vor allem mit deren Stylisten enstehen Wunsch-Boards.
4.) Danach wird mit den Agenten der Models verhandelt und es kann
5.) der nervige First-Option-Clinch mit anderen konkurrierenden Shows beginnen.
6.) folgt vor der Show noch ein Fitting, wo dann u.U. Models noch ausgetauscht werden müssen.
(In Videos zu Castingprozessen hab ich im Fall von James Scully und Angus Munro gesehen, dass die CDs nicht nur während der Fittings, sondern auch noch backstage vor und während der Shows dabei sind.)
Das Interessanteste daran, neben der Bedeutung der Stylisten, fand ich die Information, dass Castings oft für mehrere Shows abgehalten werden. Marqueemoon spricht vermutlich von "precastings", weil die Vorstellung der Models für die CDs nur der erste Schritt im Prozess der Show-Besetzung sind - für die Models ist das natürlich DAS Casting.
***
In den Interviews mit führenden Casting Direktoren sind die Massencastings selten ein besondrer Punkt. Vielleicht weil's einfach der stressigste und am wenigsten glamouröse Teil ihrer Arbeit ist und sie dort mehr wie Fließbandarbeiter und weniger wie Künstler erscheinen?
James Scully (er castet für Carolina Herrera, Derek Lam, Tom Ford, Stella McCartney, früher auch Jason Wu und Oscar de la Renta) beschreibt in einem fashionista Interviev von 2014 seine Arbeit so, als würde sie mit dem Durcharbeiten der Show Packages beginnen. Cirka 3 Wochen vor den Septembershows sind plötzlich alle in town und die Packages da. Die werden dann komplett durchgearbeitet.
I'll go through every single one of them and compile a list of girls from each agency that I want to see. Then later this week, I'll literally see every girl from all of those packages from all of those agencies. After that's done, I'll select a group of each of those girls that would be potentials for each of my clients. Then they go to see the clients, and after they see them, we finalize the cast and set up their fittings. That's everything that happens before the show.
Viele seiner Kunden nehmen zu 70% Models, mit denen sie schon gearbeitet haben, sodass er eigentlich nur die 30% new faces casten muss: "a lot of the time your cast is predetermined". Am Ende von New York castet er dort schon für London - und hat dann, weil er nicht für Mailand arbeitet, eine Woche Luft für Paris:
London basically has to be done from New York, because the girls leave the next day and a lot of girls fly in and go straight backstage. Because I do London, that's why I do less in New York because I already have to start moving on that. I don't do Milan so I have a week before I have to start working on Paris. But again, in Paris I do Stella McCartney and she has a very definitive Stella girl, so it's a 70/30 swap out, because when she likes a girl she likes her to come back.
Wobei ich aus den Listen nur Tom Ford as Londoner Klienten sehe. Seit der in London nicht mehr zeigt hat Scully wohl mehr Zeit für Stella. Das "I don't do Milan" ist dabei wohl eine Redeweise von New Yorker/Londoner CDs, die etwas darüber hinweg gleitet, dass CDs aus New York generell wenig in Mailand machen. Die Mailänder Shows sind stark in Händen von Italienern. Paris ist gemischt, aber stärker von italienischen als angelsächsischen CDs betreut. Franzosen sind in dem business offenbar selten. Dafür verteilen sich die großen Pariser Shows aber auf mehr Casting Direktoren; selbst die bedeutenderen CDs machen oft nur eine oder zwei Shows. Paris ist exklusiver.
***
Angus Munro ist wie Scully seit den 1990ern im Geschäft, zuerst als mainboard-Betreuer für Elite London bevor er sich mit Noah Shelley zusammentat und als Casting Director selbtständig machte. Er castet eine Vielzahl von Shows, um die 25 pro Saison, aber weniger die ganz großen (die größten dürften Kenzo, Preen, Erdem und DKNY sein) und mehr avantgardistische Labels - was auch dazu passt, dass er seit 2014 fürs id-magazine castet. Rick Owens scheint er besonders zu mögen. (Und da er auch Undercover gecastet hat, dürfte er auch Anna gesehen und befürwortet haben.)
In mehreren Interviews hab ich Munro die (Massen-) Castings gar nicht erwähnen sehen. Er spricht als wüsste er immer schon, welche Models interessant sind und die Frage wäre nur noch, ob sie gerade bereit sind.
Zitat...generally i’d meet with the designer, find out what the collection is about, look at the collection in terms of casting and find out who’s available. I’ll start with an ‘A’ board and discuss it with the stylist, who always have an opinion. It’s then down to whether the girl is available and whether they fit in the clothes etc. (Interview mit ftape, vermutlich 2012)
Was ihn scheint's ständig umtreibt ist die Frage der Exclusives. Und ein Blick auf seine Kundenliste verrät schon: er hasst es. Die Macht der Großen beschränkt seine Möglichkeiten. Aber was er dazu sagt ist schon interessant:
ZitatThe thing I hate most is the idea of exclusivity. It’s just muscle flexing by big brands over smaller ones. We never do it apart from if we are specifically flying a model in for a show. I think it’s old fashioned and bullying
Wobei er das bullying wörtlich meint:
Zitat... there’s still this culture of bullying that dates back to the nineties. People that shouted the loudest and the nastiest were the most successful but things are changing.
If you look at Hedi [Slimane] and Raf Simons, the good guys are coming. The big casting positions are coming available. The older guys are stepping aside.
****
Was die Exkluisves angeht hält Anita Bitton in einem Vogue-Interview (19.8.2015) dagegen:
ZitatI don’t disagree with exclusives, I think nurturing the designer-muse relationship is important for many reasons.
Und siehe da: sie arbeitet für einem Designer, der sich tatsächlich regelmäßig seine Musen sucht und sie fördert: Alexander Wang. Außerdem für Marc Jacobs, Sonia Rykiel, Giles und Topshop - ziemlich regelmäßig in Zusammenarbeit mit der Stylistin Katie Grand. Sie scheint an Einfluss zu gewinnen und castet seit neuestem wohl auch für Miu Miu, was in dem oben erwöhnten tfs-Thread viele entsetzt.
Bitton hat sympathischerweise das Lernen der Models stark im Fokus. Aber obwohl sie die Maßnahmen gegen die Beschäftigung von Unter-16Jährigen unterstützt ... sieht man sie doch von den Models als "kids" sprechen:
ZitatIt won’t be easy, but models need the opportunity to learn, to graze their knees and get back up again. These kids are splendid, they’re brilliant. I like it when they love it.
Das Lernen ist ihr Hauptpunkt gegen das "Entdecken" von Models. Alexander Wang mag z.B. vielleicht Anna Ewers "entdeckt" haben - aber
damit war Anna noch kein Star.
ZitatThese girls don’t become stars overnight, none of them do. You name me one. It just doesn’t happen, there’s a lot that goes into it. Just because I go to Sweden and see a girl at an agency, she isn’t being discovered—she’s a model waiting to be booked. Anna Ewers is a good example; Alex [Wang] sent me a picture of Anna—love this girl—she drove in from Germany to meet Alex, he met her, liked her, but she was really, really green. So then, what he did—what he’s always done—was keep in touch with the girl, because you make your girl. It’s that familiarity. And so she came back, and did another season, and did Valentino, and it happened very slowly. When a designer sees a model that he loves, you know, that designer-muse relationship is unbreakable, and he did discover her for that moment, but it took more than “discovery” to make her a star.
****
Nachdem 2011 bekannt wurde dass er sich von IMG und WOMEN hat bestechen lassen, um deren Models verstärkt zu berücksichtigen, ist Russell Marsh vom Thron der Casting Direktoren gestürzt worden. Seine Erbin, zuerst bei Prada und Miu und Miu, dann als vielfach angesehene Nummer 1 des Geschäfts ist Ashley Brokaw. J.W.Anderson und Loewe, Proenza Schouler und Hugo Boss sind ihre Kunden. Mit Nicolas Ghesquière arbeitet sie seit 10 Jahren zusammen, früher für Balenciaga, jetzt für Louis Vuitton. Bei ihr gehören Exklusives fest zum Job - aber sie scheint auch stärker als andere auf der Jagd nach neuen Gesichter zu sein. Und es sind nicht die Supermodels, sondern mehr die "slow burner", die sie sucht.
Das T magazine stellt in einem großen Brokaw-Porträt Lineisy Montero, Rianne Van Rompaey, Fernanda Ly, Amanda Murphy, Harleth Kuusik, Malaika Firth, Mica Arganaraz, Aya Jones. Andernsorts werden Jamie Bochart oder Hanna Gabi Odiele zu den typischen Brokaw-Models gezählt.
Zitat“You wouldn’t know most of the girls that are on the runway today were models,” Brokaw says. “They could all be sitting here and you probably wouldn’t recognize them, wouldn’t necessarily guess they were models at all.”
Wenn man den Artikel liest, scheint Brokaw die Welt regelrecht nach Brutplätzen für gute Models abzuscannen (Australien wäre an sich prima, aber Sonne und Beach ruinieren die Modelkarrieren ... ). Und sie besucht z.B. gerne Eltern: um die Endgröße der Mädel abschätzen zu können. Zu ihrer Art der Modelsuche gehört das Wartenkönnen auf den Moment, wo die Mädel "reif" sind fürs business.
***
Noch auf dem Höhepunkt seines Ruhms hat Russell Marsh für wwd 2011 die 5 Großen des businiess vorgestellt. In einem Artkel, den ich mangels Subsciption nicht lesen kann. Aber Maida & Rani zählten dazu. Und zählen sich noch: mit gut 20 Shows in der Saison und einem halben Dutzend der größten darunter. Gleichzeitig steht der Name der beiden immer an vorderster Front wenn es um Rassismus-Diskussionen geht. Die größen "Skandale" in Sachen komplett oder fast komplett Weiß (wie Shows von Calvin Klein, Jil Sander und Dior unter Raf Simons) gehen auf ihr Casting-Konto. 2013 gab's eine größere Diskussion, mit einer buzzfeed-Befragung von 5 Top-Casting-Direktoren zum Thema (siehe auch den Artikel Racism and the Fashion Industry).
Dass Maida&Rani auch anders können haben sie mit Zac Posen's letzter Show bewiesen, dessen Cast überwiegend schwarze Models enthielt.
Von ihnen selber ist im Netz nicht so leicht was zu hören. Ich hab jedenfalls nichts gefunden. Aber hier im Forum könnte das Duo gewisse Sympathien für sich eimheimsen durch die Tatsache, dass sie AW15 nicht nur Dior gecastet haben, wo Ivana lief, sondern auch Andrew Gn und Masha Ma... (Ein Pendant in London wäre übrigens Sarah Murray, die Julien MacDonald und Peter Pilotto castet.)
***
Die Nummer 1 in Italien könnte derzeit Piergiorgio Del Moro sein ("#pg_dmcasting" ist zumindest das Danksagungs-Tag, das mir am häufigsten begegnet ist). Er ist tatschlich in allen Big4-Cities mit großen Shows vertreten. Aus Interviews und Porträts in The Fashionography und Vogue hab ich leider nicht viel über ihn erfahren können, weil die Redakteure mehr Interesse an Blabla und Wichtigkeitsbehauptungen
und keinerlei ernsthafte Fragen hatten.
****
John Pfeiffer castet für Shows in New York (Michael Kors, Vera Wang, Diane von Fürstenberg, über 10 Jahre auch für Donna Karan), Mailand (Bottega Veneta) und Paris (Chalayan, Nina Ricci, H&M und Akris) - und die vermutlich meist beachtete Show außerhalb der Big 4. Als Filipino glaub ich ihm ja die Freude darüber, dass nicht bloß die Zahl der asiatischen Models wächst, sondern im business zunehmend von chinesischen, koreanischen, japanischen etc. Models gesprochen wird. Aber sein Plädoyer für diversity zum einen ...
ZitatWe need to take action. Fashion exists in a space that is about what’s next and what’s new. Certainly designers such as Yves Saint Laurent can be credited with making major strides in diversity — but I’m more interested in how that carries over into today. How can we as a community create a bold, empowering, and inclusive aesthetic? It’s something that is always on my mind.
... und dann auf der andern Seite: sieht man das den VS-Shows an? Sieht an das bei Michael Kors und DvF? Das kauf ich ihm ungefähr soweit ab wie seine Aufrichtigkeit über Gigi und Kendall auf der VS Show :
ZitatBut I say this truthfully and sincerely: I think Gigi and Kendall make it in based on merit. You can’t deny that they’ve got this incredible following and have great backstories, but they have proven themselves as models. They’re not dilettantes; they’re both professionals.
Ein Schelm wer was denkt... Jahr für Jahr die Berichte von den härtesten body-checks der Welt, das gnadenlose Casting, das alle Supermodels zittern lässt. Und dann wird Gigi bescheinigt, sich als Model erwiesen zu haben und professionell zu sein.
So sind sie, die CDs ...